Maja Ingold im Landbote Interview: "Unsere Leidenschaft damals war grösser"

Der Landbote hat Maja Ingold anlässlich Ihres Rücktrittes und der Vereidigung von Nik Gugger als Nationalrat interviewt.

Die EVP-Politikerin Maja Ingold schaut nach 20 Jahren in Winterthur und Bern zurück auf ihre unerwartete Karriere. Im heutigen Stadtrat vermisst sie Leidenscha . Im Nationalrat macht sie störenden Lobbyismus aus. Und zur Jihadismus-Frage sagt sie: «Ich hätte das Blinken der Warnlampe ernster nehmen müssen.»

 

Sie waren acht Jahre lang Teil der Regierung Wohlwend, er war Stadtpräsident, Sie Sozialvorsteherin. Wie haben Sie jene Jahre in Erinnerung?
Ingold: Ich habe das Gefühl, dass wir probiert haben, Winterthur vom Image der grauen Maus zu befreien. Es hat lange gedauert nach der Deindustrialisierung, das Bild zu korrigieren. Dass Winterthur zu einer Wohn- und Kulturstadt wurde, dahin haben wir die ersten grossen Schritte gemacht. Wir haben versucht, ein neues Image zu kreieren.

Was ist übrig geblieben von der damaligen Aufbruchstimmung? Zuletzt war Winterthur ja das Griechenland der Schweiz und die Jihadismus-Hochburg.
Das war ein gefundenes Fressen für die Boulevardmedien. Doch beides trifft nicht zu. Aber es stimmt, dass es nicht gelungen ist, die Imageentwicklung fortzusetzen. Die Anfänge, die Zwischennutzungen auf dem Sulzer-Areal, die Start-ups, die dort gegründet wurden, das war eine dynamische Zeit. Das erste Mal in die Halle 53 zu dürfen, das war eine Sensation. Aber dann war die Halle einfach jahrelang ein Parkhaus. Beim Katharina-Sulzer-Platz dasselbe: Man hat gesehen, wie er entsteht, dann wurde er in Architekturzeitschriften abgebildet, aber dann war das gebaut. Die Zeit danach war schwieriger.

Warum läuft es nicht mehr so gut mit dem heutigen Stadtrat?
Mein Gefühl sagt mir, dass unsere Leidenschaft grösser war. Das ist aber subjektiv und kann daran liegen, dass ich dabei war. Heute bin ich eine Aussenstehende und empfinde es eher so, dass wir in einer Zeit der Stagnation stecken. Heute sind wir einfach eine Stadt mit 110 000 Einwohnern in der Schweiz. Die Erfolgsfaktoren, die unsere Regierung für Winterthur herausgeschält hatte, daran wurde entweder nicht weitergearbeitet, weil die Leidenschaft fehlte – oder weil die Regierung finanziell ausgebremst wurde.

Unter Ihrer Regierung musste auch gespart werden.
Ja, und wie. Mir hat man gesagt, ich müsse in den Alterszentren zwei Millionen Franken einsparen beim Personal, aber die Bewohnerinnen dürfen nichts davon merken.

Sie haben die Alterszentren contre coeur umstrukturiert?
Ja. Ich habe meinem Nachfolger Nicolas Galladé später gesagt, schön, dass Du jetzt das Geld hast, in jedem Haus wieder einen Leiter einzusetzen. Wir hatten das Geld nicht, mussten oben zusammenziehen, damit man in der Pflege nichts vom Sparen merkt.

Jetzt hat man also, keine zehn Jahre später, alles wieder rückgängig gemacht. Ist das klug?
Man hat es nicht rückgängig gemacht.

Was denn sonst? Man sagt jetzt einfach Standortleitungen, nicht mehr Heimleitung.
Das ist mitnichten das gleiche. Früher waren das fünf Königreiche, jeder hat es anders gemacht. Da war es schwierig gerecht zu sparen. Der eine sagte: Bei mir nicht, ich bin einer der billigsten. Der zweite wollte privatisieren und die guten Risiken mitnehmen. Und der Dritte sagte: Wir haben alle schwer Pflegebedürftigen und können nichts dafür.

Worüber haben Sie sich bei den Sparprogrammen der letzten Jahre am meisten gewundert: Die abmontierten Bänkli oder die Volière im Vögelipark?
Das sind Peanuts. Ich weiss, wie so etwas zu Stande kommt: Irgendwann sagt einer beim Sparen, auch Hühner machen Mist: Aber das ist nur Symbolpolitik. Und es zeigt, wie schwer es ist, bei den grossen Posten zu sparen. Wir mussten damals für ein Jahr die Löhne der städtischen Angestellten um drei Prozent kürzen. Das mussten wir mit den Sozialpartnern aushandeln. Aber derartige Projekte erzeugen einen solchen Widerstand, dass ein Stadtrat lange zögert.

Hat der Stadtrat heute eine Tendenz, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen?
Das glaube ich nicht. Vielleicht fehlt etwas der Mut. Oder die Überlegungen, wieder gewählt zu werden, spielen stärker mit. Das war bei mir nie so, ich habe es nie darauf angelegt, wieder gewählt zu werden. Ich glaube, der Mut, etwas Unpopuläres zu wagen, ist heute gesunken. Gerade heute ist Simonetta Sommaruga nach Zürich gekommen, um das Anti-Radikalisierungsprojekt anzuschauen. Das ist ein grosser Wurf. Den Gestaltungswillen, den es für so etwas braucht, vermisse ich in Winterthur. Die Stadt hat zwar in der Integration jemanden eingesetzt, aber es war spät. Wenn man ein Etikett bekommt wie Jihadistenhochburg, dann muss man mit etwas Grossem reagieren. Nun weiss ich nicht, was gefehlt hat: die Idee, der Mut, die Zeit oder die Mittel.

Wurde der Jihadismus von der Stadt zu lange als polizeiliches Problem qualifiziert, zu wenig als gesellschaftliches Problem.
Ich war froh, als Nicolas Galladé das Dossier übernommen hat. Ich bin als Sozialvorsteherin immer an die Einweihungen der Moscheen gegangen, überallhin, wo ein Religionsdialog anstand.

Als Sozialvorsteherin oder als interessierte Christin?
Als beides. Wie man mit den anderen Religionen zusammenlebt, hat einen Einfluss auf das soziale Zusammenleben. Mir wurde damals klar, dass man mit den Imamen ins Gespräch kommen muss, um zu verhindern, dass unsere Jugendlichen radikalisiert werden. Im Nationalrat habe ich später auch den Vorstoss eingereicht, der eine Ausbildung von Imamen an Schweizer Hochschulen vorschlägt. Die Imame sind Schlüsselfiguren. Ich weiss noch, wie ich als Stadträtin bei der Einweihung der An’nur Moschee war. Sie haben mit mir auf einer Führung gezeigt, wie sie die Kinder unterrichten. Es waren Konvertitinnen: intelligente mitteleuropäische Frauen mit Kopftuch. Hinter den Moscheen stehen ja Kulturvereine, über die das ganze soziale Netzwerk läuft. Was macht das mit den Kindern – solche Gedanken gingen mir damals durch den Kopf . Und ich hätte, wenn ich Stadträtin geblieben wäre, wohl schneller darauf reagiert.

Ein Vorwurf an Ihren Nachfolger?
Nein, er war damals ja nicht federführend.

Die Radikalisierungsthematik gab es damals noch nicht so wie heute. Wenn Sie zurückblicken auf die Eröffnung der An‘nur: Was löst das bei Ihnen aus?
Bei mir hat damals eine Warnlampe aufgeleuchtet. Im Nachhinein muss ich mir sagen, das hätte ich ernster nehmen müssen.

Gehen wir zurück an den Anfang ihrer politischen Karriere. In Ihrer Biografie hat nichts darauf hingedeutet, dass Sie in 20 Jahren Gemeinderätin, Stadträtin und Nationalrätin werden würden. Sehen Sie das auch so?
Ja, absolut. Ich habe nie daran gedacht, dass es so kommen würde. Schon gar nicht, dass ich je Stadträtin werden würde. Ich dachte immer: Das kannst du gar nicht. Musste dann aber feststellen: Die kochen auch nur mit Wasser. Das ist in Bern auch nicht anders.

Sind Sie glücklich darüber, wie alles gekommen ist?
Was mich angetrieben hat, das war immer die Frage: Was muss der Staat leisten, damit die Menschen solidarisch und friedlich zusammenleben. In den letzten 20 Jahren glaube ich, dass ich über kaum eine andere Plattform mehr hätte erreichen können.

Wo haben sie mehr erreicht: In den acht Jahren im Stadtrat oder den fast acht im Nationalrat?
Natürlich kann man in der Exekutive, im Stadtrat, mehr bewegen. Zum Beispiel in der Jugendarbeit hatte man sehr viel Gestaltungsspielraum. Hier konnte man in Kooperation mit den Kirchen gute Lösungen finden.

Im Nationalrat waren Sie vor allem Interpellationsproduzentin: Im ersten Jahr hatten Sie an die zwanzig Vorstösse eingereicht.
Als ich nach Bern kam, dachte ich, es kann doch nicht sein, dass die immer Gesetze zum Nachteil der Gemeinden machen. Ich stand unter dem Eindruck der neuen Pflegefinanzierung. In Bern war entschieden worden, was wir den Bewohnern im Alterszentrum verrechnen müssen, was die Krankenkasse zahlt und was an der öffentlichen Hand hängen bleibt. Viele Vorstösse habe ich auch zu Themen wie Arbeitsintegration und Integration von psychisch Kranken eingereicht – weil ich gesehen hatte, dass wir auf kommunaler Ebene kein Geld für wirksame Massnahmen hatten.

Sie sagten damals, Sie wollten Politik für die Städte machen.
Ich wollte eine nationale Politik machen, die sich positiv auf Lösungen auswirkt, die Städte ergreifen können. Gerade im Sozialbereich ist man stark von der nationalen Gesetzgebung abhängig.

Wenn man dem heutigen Stadtrat zuhört, hat sich diesbezüglich nichts geändert.
Das ist so. Mein Lehrblätz war, dass der Bund nur die Kantone als Partner sieht. Der Städteverband gibt sich zwar alle Mühe und macht seine Arbeit gut, aber der Einfluss der Städte und Gemeinden ist klein, auch wenn in Bern alle Politiker eine kommunale Herkunft haben.

Wie sehr mussten Sie lernen, dass in Bern andere Interessengruppen mitspielen. Gerade die Pflegefinanzierung war ein Lobbyprodukt der Krankenkassen.
Absolut. Das ist genau, was ich feststellen musste. Es gibt zwar jeweils gute, sachbezogene Botschaften vom Bundesrat. Aber dann kommen sie in die Kommissionen, zum Beispiel in die SGK: Da war ich wohl die einzige von 25 Mitgliedern, die keine Lobbyistin war. Dann wird die Vorlage zum Spielball der Interessen der grossen Akteure. Bei der Pflegefinanzierung war es genau so. Am Ende war das Gesetz geprägt von den Machtinteressen der Wirtschaft und schwer ideologisch gefärbt.

Als Kommunalpolitikerin sind Sie also über das Ausmass des Lobbyismus erschrocken.
Ja. Und bezogen auf meine Absichten in Bern musste ich einsehen, dass es nicht so läuft in der Bundespolitik, wie ich dachte.

Und umgekehrt: Wenn Sie den Stadtrat in seiner heutigen Zusammensetzung anschauen, hat das Lobbying zugenommen?
Ich glaube, das Lobbying hat überhaupt zugenommen, überall. Davon ist auch der Winterthurer Stadtrat betroffen.

(Interview: Martin Gmür und Marc Leutenegger, Landbote)